Jena, 17. Juni 1953, Volksaufstand

H. und seine Familie stammt aus dem thüringischen Altengottern. Tagebuch-Nr. 1357/54 der Staatssicherheit der DDR: „Der Obengenannte H. hat, wie aus beiliegenden Unterlagen eines Briefes hervorgeht, Verbindung mit Gehlen aufgenommen. Dabei bezog sich H. auf persönliche Bekanntschaft mit Gehlen. Es ist anzunehmen, dass H. ehemaliger Spitzel des SD war und die Verbindung mit Gehlen zum Zwecke der Betreibung von Spionage wieder aufgenommen hat.“ 1)

Alles konstruiert

Damit nicht genug: „Nach diesen Ermittlungen … handelt es sich bei H. um eine Person, die feindlich gegen die Deutsche Demokratische Republik eingestellt ist… Der Umgang von H. lässt auch darauf schließen, daß dieser der Initiator einer feindlichen Gruppe ist.“ Ein Sabotageakt in einer Mühlhäuser Firma wurde H. zur Last gelegt, obwohl nichts bewiesen werden konnte, dem Schichtführer allerdings fehlerhaftes Verhalten vorgeworfen werden musste. Alles war konstruiert, seine Arbeit verlor H. trotzdem und hatte es seitdem schwer, eine vernünftige Arbeit zu finden. Zeitweise wurde H. dazu verdonnert, Schwerarbeit im Torfstich zu leisten. Es war die Rache DDR-staatlicher Macht wegen seiner Teilnahme am 17. Juni 1953 in Jena.

Die Stasi-Akte über unsere Familie ist lang und enthält private Unterlagen seit dem Jahr 1927 (H. ist 1911 geboren). Bis 1960 wurde die Familie von der Staatssicherheit der DDR durch IM und GI 2) mit Verleumdungen, falschen Anschuldigungen und Postüberwachung bis in die intimsten Bereiche verfolgt. Durch private Zuträger wurde der Staatssicherheit berichtet, welche Sender des Fernsehens zu Hause gesehen wurden, wer religiös war, welche Kontakte die Familie hatte, wie man sich zur DDR äußerte usw.

…dass er nicht noch fortgeschafft wird

Der Strick wurde immer enger gezogen und die Angelegenheit langsam bedrohlich. Am 28. April 1956 (drei Jahre nach dem 17. Juni 1953!) berichtete die Dorfkrankenschwester gegenüber offiziellen Stellen: „Wir haben Nachrichten und Fotografien bekommen, dass sich H. in Jena am 17. Juni 1953 mit beteiligt hat und sogar Leute gefesselt hat. Er soll auch endlich seinen Mund halten, dass er nicht noch fortgeschafft wird.“ Angeblich soll H. auch einen Arbeiter niedergeschlagen haben. Doch es gab weder schriftliche Berichte noch Fotos als Beweise.

In den Stasiunterlagen ist auch ein Schreiben Ortsparteiorganisation (OPO) der SED vom 30.10.1956 über eine Äußerung des H. vermerkt: „Ungarn gibt auch ein Beispiel für uns, man solle sich auch hier nicht alles bieten lassen. Der 17. Juni war schon was, wenn die es Oben auch bemänteln wollen“, und weiter: „Das ist ja das Dumme, wenn nicht jeder mitmacht. Wenn wir uns einig sind und zusammenstehen, dann werden wir es ihnen beweisen.“

17. bis 22. Juni 1953 Volksaufstand, Bezirkshauptstadt Erfurt

Der Aufstand in der Landeshauptstadt Erfurt dauerte vom 17. bis 22. Juni. Die Forderungen – übertragen durch den Sender RIAS-Berlin – lauteten: „„Wir fordern höhere Löhne und niedrigere Preise, wir verlangen die Beseitigung der Normen! Weg mit der Regierung! Wir wollen freie Wahlen!“ Doch den Sender brauchte man in der DDR nicht. Alle wussten ohnehin, worum es geht. Gegen Ende der Proteste wurden zahlreiche Teilnehmer festgenommen. Es passte der DDR-Führung nicht, das Arbeiter und Bauern auf die Straße gingen. Daher musste das Konstrukt her, die Aufständischen als „faschistischen Putsch“ und als faschistische Provokateure zu bezeichnen , die „mit Steinen gegen unsere sowjetischen Freunde und unsere Volkspolizei vorgingen“. Heute weiß man, dass es gelogen war. Liniengetreue Volksgenossen waren allerdings eilfertig dabei „der Volkspolizei, das Gebäude des Ministeriums und den Thälmann-Platz von den Provokateuren zu säubern.“ 3)

In Erfurt beschränkte sich der Aufstand auf vielleicht nur 400 Menschen, mindestens 100 Frauen waren auch aktiv. Insgesamt kamen 80 Menschen unter Mithilfe des MFS in Haft, die meisten wurden nach einigen Tagen oder Wochen wieder entlassen. Man geht davon aus, dass während des gesamten Aufstandes in der DDR bis zu 125 Menschen getötet wurden. In Berlin wurden 34 von der Polizei und 19 von Soldaten der Sowjetarmee standrechtlich erschossen. Auch 20 Volkspolizisten kamen ums Leben. Zahlreiche Menschen wanderten für Jahre in die berüchtigten Knäste der DDR oder erhielten die Todesstrafe. Rechtsstaatliche Verfahren gab es nicht (WDR5 „Die Todesstrafe ist angemessen“, 18.06.2023).

17. Juni in Jena

Der Vorwurf gegenüber H. lautete, am 17. Juni in Jena (Bezirk Gera) teilgenommen zu haben. Die Stadt hatte 96.000 Einwohner. Zahlreiche Menschen legten an diesem Tag ihrer Arbeit nieder, bis zu 3.500 marschierten aus den Betrieben VEB-Jenapharm, VEB Schott oder Zeiss zum Marktplatz und stellten ihre Forderungen auf. Bereits am Morgen wurde die Untersuchungshaftanstalt (UHA) gestürmt, Häftlinge befreit, die Akten aus den Schränken hinausgeworfen und zahlreiche Utensilien gestohlen, darunter auch Waffen. Mehrere „Volksgenossen“ und Polizisten wurden verletzt. In einem anonymen Brief hieß es: „Wir haben genug von der niederträchtigen Bespitzelung, von der grausamen Enteignung der Familien, der Geschäfte, der ganzen Häuser, der Bauerngehöfte, ja, ganzer Ortschaften…Die SED ist nichts als eine Vereinigung von Räubern und Mördern…Das nennt ihr dann: Schaffen oder Aufbau des Sozialismus!“

H. verhält sich sehr ruhig

Am 8. Januar 1960 berichtete IM Förster-Christel: „In der letzten Zeit konnte ich feststellen, daß sich H. sehr ruhig verhält, dieses wurde auch von verschiedenen Einwohnern im Ort bezw. auch meiner Frau zum Ausdruck gebracht.“

Diese Ruhe hatte ihren Grund. Im Kirchenbuch des Ortes gibt es dazu eine zeitnahe Eintragung: „H. hat sich vor Pfingsten mit Familie nach dem Westen abgesetzt“. So wie über zwei Millionen DDR-Bürger, die ihre Nase voll hatten von der DDR-Diktatur und ihr deshalb den Rücken kehrten. Die Flucht von H. und seiner Familie war gerade noch rechtzeitig vor dem Bau der Mauer, für die sich die DDR als Alternative statt vernünftiger Lebensbedingungen für ihre Bürgerinnen und Bürger entschieden hatte.

Anmerkungen:
1) Organisation „Gehlen“ war der erste Auslandsnachrichtendienst der Bundesrepublik und benannt nach dem Generalmajor Reinhard Gehlen, der in der Nazizeit Leiter der Abteilung „Fremde Heere Ost“ (FHO). Mit dieser Fachkunde sicher als Geheimdienstmann für die Amerikaner willkommen. Der SD war der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, der Heinrich Himmler unterstand.
2) IM (Inoffizielle Mitarbeiter) hatten die Aufgabe, private Erkundungen über Personen einzuholen. In der DDR hießen sie oft „Spitzel“, „Denunzianten“ oder „Kundschafter“. GI waren „Geheime Informanten“, die im Wege der Auslandsspionage Informationen einholten.
3) Hrsg. Andrea Herz, Quellen zur Geschichte Thüringens, Der 17. Juni 1953 in Thüringen, 2003

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