Köln – Am 19. September fand im Kölner Lew-Kopelew-Forum eine Lesung zum ukrainisch-russischen Verhältnis statt, das über Jahrhunderte äußerst spannungsgeladen ist. Grundlage war Serhii Plokhys Buch „Die Frontlinie“. Plokhy, in Russland geboren und in Saporischschja in der Ukraine aufgewachsen, lehrte zunächst an der Universität Dnjepropetrowsk, später an der Universität von Alberta und war zuletzt Direktor des Ukrainischen Forschungsinstituts an der Harvard University. Er gilt weltweit als Autorität in Fragen des ukrainisch-russischen Verhältnisses und analysiert für uns die Geschichte der Ukraine im europäischen Kontext in lesbarer, ansprechender Form, damit wir uns in dieser unsicheren Zeit über Zusammenhänge orientieren können, die uns massiv betreffen.
Mit seinem brutalen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar hatte Wladimir Putin, Autokrat in Russlands „neuem faschistischen Reich„ (so der russische Fotograf Arkadi Babtschenko), mutmaßlicher Kriegsverbrecher, das Land erdrückend ins Bewusstsein vieler Menschen gerückt. Ein Krieg, von ihm begründet mit einem „Missbrauch der Geschichte“, der längst nicht mehr nur lokal zu verorten ist. Ein hybrider Krieg, der weltweit inzwischen teilweise furchtbare Ausmaße angenommen hat und komplett die wichtigen Fragen der Menschheit wie die klimatischen Herausforderungen ignoriert. Seit dieser Zeit beschäftigen sich viele in aufgeladenen Diskussionen mit der sogenannten „Osterweiterung“, der Lieferung von schweren Waffen zur Unterstützung der Wehrhaftigkeit der Ukraine, ihrer EU-Mitgliedschaft, ihrem Wunsch nach NATO-Mitgliedschaft oder einer vielfach beschworenen diplomatischen Konfliktlösung.
Plokhys Buch in Form von Essays seit der Neuzeit bereichert die professionelle Diskussion, wie die ukrainische Entwicklung seit 1990 geschrieben werden sollte, um einen angemessenen Platz in der EU-Geschichte zu erhalten. Zentrale Punkte der Analyse sind nicht nur das russisch-ukrainische, sondern auch das polnisch-ukrainische Verhältnis.
Dabei will Plokhy historische Myten widerlegen. Nach Ausflügen in das späte Mittelalter beschreibt Plokhy die Neuzeit und widerlegt die Geschichtsphantasien des Hobbyhistorikers Wladimir Putin. Beispielsweise hatte „Lenin (hat) das sowjetische Russland geschaffen, nicht die Ukraine. Vorher gab es das politische Russland nicht“, so Plokhy. Nach seiner Ansicht gab es auch nicht „die“ russische Revolution, weil die Entwicklung der einzelnen sowjetischen Staaten bei der Geschichtsschreibung ungenügend in unserer Geschichtsschreibung Berücksichtigung gefunden hätten.
Als selbständiges Staatengebilde hatten Polen und Russland unter dem russischen Präsidenten Boris Jelzin die Ukraine bereits anerkannt. Dennoch hatte schon Jelzin vor, die Ukraine aufzuteilen. Seit 2014 ist nun dieses Land während seiner Ablösung vom postkolonialen russischen Erbe äußerst schmerzhaft mit „der Präsenz des Krieges“ konfrontiert. Doch „dieselbe Ukraine, die nach Putins Ansicht durch historische Verwerfungslinien und Sprachgrenzen so gespalten war, dass sie angeblich weder eine Daseinsberechtigung noch eine Chance hatte, Russlands Angriff etwas entgegenzusetzen, hielt stand und, mehr noch, wehrte sich“, heißt es im Buch.
Aber eigentlich war nicht die NATO Putins Problem. Seine „…eigene Äußerungen und Schriften vor der erneuten Invasion deuten darauf hin, dass der wahre Grund und die eigentliche Rechtfertigung für seine Aggression gegen die Ukraine – deren Bemühungen um einen NATO-Beitritt vom Bündnis schon lange vor diesem Angriff abgewürgt wurden – in der Geschichte wurzeln, besonders in einer bestimmten Version russischer Geschichte und ihrer Beziehung zur Ukraine, die Wladimir Putin und ein Teil der politischen Elite Russlands übernommen haben.“
Doch Plokhy ist zuversichtlich: „Ich betrachte die Ukraine als Teil der europäischen Geschichte“, obwohl die EU „die Ukraine als Beitrittskandidat lange nicht ernst“ nahm. Dabei hatte die enorme zivilgesellschaftliche Bewegung in der Ukraine seit den Maidan-Protesten eine starke Hinwendung zur EU und eine Abkehr vom russischen Imperialismus deutlich gemacht. „Die Ukrainerinnen und Ukrainer haben gerade in den letzten Monaten bewiesen, dass sie zu Europa gehören“, so Plokhy.
Durch die Online-Veranstaltung führte der Historiker Prof. Dr. Guido Hausmann und die Geschäftsführerin des Lew Kopelew Forums, Tatiana Dettmer. Die Übersetzung lieferte Nadja Simon.
Vier der hier gezeigten Fotografien im Lew Kopelew Forum stammen von dem ukrainischen Kriegsreporter Mstyslav Chernov und der Ausstellungseröffnung „Die Gesichter des Krieges“, die am 12. Juni von Georg Restle, Leiter des Politmagazins „Monitor“, moderiert wurde.
Interessierte Medienvertreter/Redaktionen können die Bilder hier anfragen.
Serhii Plokhy:
Die Frontlinie
Herausgeber: Rowohlt Buchverlag; 1. Edition, 19. Mai 2022
Sprache: Deutsch
Gebundene Ausgabe 544 Seiten
ISBN-10: 3498003399
ISBN-13: 978-3498003395
Originaltitel: The Frontline
Gebundene Ausgabe 30,00 Euro