Von Medien wird immer noch behauptet, Olaf Scholz hätte die „Zeitenwende“ ausgerufen. Das ist falsch. Er hat nur das benannt, was längst war und sich lange angekündigt hatte. Mit der Politik gegen den Klimawandel rechnet Professor Claudia Kemfert, Wissenschaftlerin für Energie- und Klimaökonomie, Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt des DIW und Mitglied im Sachverständigenrat der Bundesregierung in ihrem Buch „Schockwellen“ ab. Selbstbewusst, wenn sie gelegentlich ausführt, dass alles hätte anders kommen können, hätte man nur auf sie und die Wissenschaft gehört. Manchmal ist es eben tragisch, wenn man seit 2006 Recht behält. Auf 310 Seiten begründet sie, wie die Politik mit Überheblichkeit und Ignoranz und bei mangelnder Risikoabwägung die falschen Schlussfolgerungen gezogen hat.
Politik gegen die Realität
Offenbar funktioniert Politik eben anders. Mit vielerlei Rücksichtnahmen, nicht zuletzt auf das klimaleugnende Wählerpotential, dass es gern bequem und warm hat und bei den massiven Veränderungen in geistige Starre verfällt. Durch Wandel fühlt man sich gestört. Die Politik aller Regierungen und Parteien der letzten 20 Jahre kommt bei Claudia Kemfert gnadenlos unter Kritik. Insbesondere die ehemalige Bundesumweltministerin und letzte Kanzlerin Angela Merkel, die nach 2014 Deutschland in die fatale Abhängigkeit zu Russland führte. Mit diesem Geld finanzierte Wladimir Putin den Krieg gegen die Ukraine. Die 22 Konflikte mit Putins Staatskonzern Gazprom inklusive seiner Kriegsdrohungen wurden ignoriert. Gas, Öl und der ukrainische Getreideexport wurden von ihm als geopolitische Waffen eingesetzt.
Und gerade wird die einzige „Klimapartei“ – die Grünen – in der „Ampel“ gegrillt und weiter zu fossilen Brennstoffen genötigt, insbesondere zum schädlichen Fracking-Gas aus den USA. Die FDP mit Christian Lindner und Volker Wissing weigern sich, ein Klima-Sofortprogramm vorzulegen – bei gleichzeitigem Einfordern von „Techniken der Vergangenheit“. Die FDP versucht, das Gebäude-Energie-Gesetz zu Fall zu bringen – Öl auf die Mühlen der Klimaleugner und der AfD. Für Kanzler Olaf Scholz scheint der Klimaschutz auch keine Priorität auf seiner Agenda zu haben.
Den „Laden vor die Wand fahren“
Deshalb wirkt Claudia Kemfert so niedergeschlagen – und wird ungewohnt kämpferisch: „Es ist zum Haareraufen: Muss der Laden erst völlig an die Wand fahren, damit alle verstehen, was los ist? Warum muss erst die Katastrophe passieren?“ Wissenschaftlich basiert, mit Zahlen unterlegt und scharf analysiert wirft sie der Politik der letzten 20 Jahre vor, nicht die richtigen Konsequenzen aus den nahenden Bedrohungen gezogen zu haben. Vor allem würden die Bürgerinnen und Bürger bald deutlich merken, dass sie die Kosten des Klimawandels deutlicher trifft als die Kosten für den Klimaschutz. Kemfert sieht nur noch ein kleines Zeitfenster für den überfälligen Wandel.
Erst vor 30 Jahren hatte man sich mit Klimapolitik beschäftigt, aber bis heute alle Zeit gehabt „Energiesicherheit, soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz“ zusammen zu bringen. Zu lange hätte man auf fossile Brennstoffe wie Öl, Gas und Kohle gesetzt. Und es war so bequem und günstig, sich auf dem Öl und Gas aus Russland auszuruhen. Doch „Fossile Energien sind knapp. Fossile Energien sind klimaschädlich. Erneuerbare Energien sind unendlich vorhanden und gut fürs Klima“ lautet Kemferts Lösung auf den Punkt gebracht. Doch dass hätte eben die Profitorientierung der Wirtschaft gestört. Dabei hat sie vor allem BASF im Blick: „Wenn man heute sieht, mit welcher Leichtfertigkeit Sigmar Gabriel als Bundeswirtschaftsminister die Entscheidung getroffen hat, den Gasspeicher Rehden an Gazprom zu verkaufen … das ist schockierend“ äußert sie in einem Interview gegenüber NTV.
Kaum noch ein Zeitfenster
Claudia Kemfert sieht kaum noch ein Zeitfenster, um aus diesen Abhängigkeiten herauszukommen. Die „Politik der kleinen Schritte in den letzten Jahren und Jahrzehnten war vielleicht für manche eine bequeme Gangart. Doch uns läuft die Zeit davon.“ Sie folgert aus all dem auch eine Abkehr von den Energieriesen und mehr Bürgerbeteiligung. Wer auf der Höhe der Zeit in verständlicher Weise und fundiertem Wissen über Zusammenhänge in diesen dramatischen Zeiten informiert sein will, kommt um dieses Buch nicht herum. Die kurzen Kapitel animieren dazu, dass man das Buch auch abends im Bett lesen kann. Aber Vorsicht: Einschlafen ist dabei unmöglich.
___________________________________
Schockwellen
Letzte Chance für sichere Energien und Frieden
Claudia Kemfert
Verlag: Campus Verlag
ISBN: 978-3-593-51696-7
26,00 Euro
___________________________________
Interessant hierzu auch in Reschke-Fernsehen vom 1.6.2023: „Wie uns die Ölindustrie belügt“